Wo kommst du her – und wo gehst du hin?
Eine Frage – wie geschaffen für den Jahreswechsel;
Wie geschaffen für Umbruchzeiten im Jahr oder auch im Leben.
Wo kommst du her und wo gehst du hin?
Diese Frage bekommt eine Frau gestellt, deren Leben wir nicht unbedingt als ‚gesegnet‘ beschreiben würden. Ihr Leben war immer wieder von Brüchen und Umbrüchen durchzogen. Sie heißt Hagar.
Schon ihr Name verrät ein Schicksal, das man nicht teilen möchte.
Hagar ist ein hebräisches Wort und bedeutet: Die Fremde.
Sie ist eine – vermutlich junge – ägyptische Sklavin im Haushalt von Abram und Sarai.
Und das bedeutet, dass sie dort eine Namenlose ist. Abraham hat sie gekauft, von einem Sklavenhändler. Natürlich hatte sie einmal einen Namen… einen ägyptischen.
Aber wen interessiert das?
Die Hebräer Abram und Sarai offensichtlich nicht.
Sie machen sie zu einem Ding, einem Besitz, einer Sache, und geben ihr mit jeder Anrede zu verstehen: Du – gehörst nicht dazu! Du – bist und bleibst ‚die Fremde‘.
Alles, was Hagars Leben ausmacht – alles:
ihr Ort zum Schlafen, ihr Essen, ihre Funktion, der Ton, in dem man mit ihr spricht, den Ärger, den man an ihr auslässt, ganz sicher die Gewalt, der sie ausgesetzt ist, ihre Rechtlosigkeit… Das alles lief maßgeblich über ihre Herrin Sarai.
Alles zeigt ihr:
Du – Sklavin – Ding – Besitz… hast kein eigenes Leben.
Ein Leben, das einem Menschen nicht gerecht wird – und sich auch ungerecht anfühlt.
Nun kennen wir die Geschichte Sarais und Abrams.
Auch sie waren heimatlos unterwegs, sind dem Ruf Gottes aus ihrem Heimatland Chaldäa gefolgt, in eine unbekannte Zukunft und leben jetzt 10 Jahre in Kanaan… der Fremde…
Sie hatten die 80 überschritten und waren kinderlos (was für eine Schande – besonders für Sarai), und somit war klar: Da kommt auch nichts mehr.
Ein Leben, das einem Menschen nicht gerecht wird – und sich auch ungerecht anfühlt.
Das heißt, das Lebensgefühl der Herrschaft und der Sklavin lag vermutlich nicht weit auseinander. Diese ganze Geschichte trägt Bitterkeit in sich auf beiden Seiten.
Um der Schande der Kinderlosigkeit wenigstens durch die Hintertür zu entkommen, bedient sich Sarai ihres damals geltenden Rechts, sich Kinder über die Magd zu verschaffen:
Sie bedrängt ihrem Mann die Sklavin zur Frau zu nehmen.
Irgendwie haben sie beide kein echtes Mitspracherecht.
Da heißt es: Abram gehorchte der Stimme Sarais.
Was schwingt da nicht alles mit?
Was für ein einziges, großes Gefühl des Unbehaust-seins, der Sinnlosigkeit eines langen Lebens, der immer wieder enttäuschten Hoffnung (hier auf Nachkommenschaft) und - des Scheiterns.
Und das wird hier, im ersten Buch Mose in gerade mal 3 Versen erzählt… ist aber alles drin.
Hagar wird schwanger.
Und Sie können sich vorstellen, was da jetzt abgeht zwischen den beiden Frauen.
Für Hagar wendet sich nun zunächst das Blatt. Sie hat, was Sarai verwehrt blieb.
Fruchtbarkeit war das Zeichen des Segens Gottes.
Unfruchtbarkeit dagegen wurde gleichgesetzt mit einer Strafe Gottes… für was auch immer.
Das ungeborene Kind wird zur Projektionsfläche des Glücks.
Hagar kostet die Situation nun aus. (Wie gut man das verstehen kann.)
Sie zahlt es Sarai heim.
Sie bekommt die Aufmerksamkeit Abrams, der nun doch im hohen Alter endlich und unerwartet noch Vater wird.
„… sie achtete ihre Herrin gering!“ wird da erzählt.
Das Muster bleibt… zieht sich durch. Da ist keiner glücklich!
Für Hagar allerdings, fühlt es sich zumindest für eine kleine Zeit so an.
Aber sie überzieht. Übertreibt. Sarai hält die Demütigung nicht mehr aus.
Sie wütet gegen ihren Mann. Sie ruft sogar Gott zum Richter an…
bis Abram nicht mehr einlenken kann und ihr erlaubt, die werdenden Mutter seines Kindes „zu demütigen“… (ich denke, das heißt: ihr Gewalt anzutun – Schwangerschaft hin oder her)
Hagar, die Fremde, weiß was ihr blüht und sie flieht. Aber wohin?
Nomaden in der Steinwüste hatten ohne die Sippe, ohne einen Verbund mit anderen, keine Überlebenschance.
Die ist am Ende. So oder so. Bleiben ist Pest und fliehen ist Cholera.
Ein Lebensgefühl – ein Gefühl von Leben also… das gab es schlicht nicht.
Ich erzähle das so ausführlich, was diese drei kurzen Verse beinhalten, weil wir sonst nicht ermessen, was der Vers bedeutet, mit dem dieses Jahr überschrieben ist.
Es ist ein Vers für Menschen, die Brüche im Leben, die harte Abbruchkanten kennen.
Es ist ein Vers für Menschen, die nicht mehr wissen, wohin.
Es ist ein Vers für das Scheitern, die Ohnmacht… für die roten Lebensfäden, die sich manchmal über Generationen weitertragen und die einschneiden und schmerzen.
Dieses Familien- und Lebensdrama bestimmt den Gehalt/ die Qualität unserer Jahreslosung!
Ich weiß nicht, ob Sie sich hier wiederfinden, angerührt fühlen… aber in meinen vielen Gesprächen mit unterschiedlichsten Menschen… ich kenne kaum jemanden, der hier nicht etwas zu erzählen hat.
Ich lese einmal, wie es weitergeht: (Genesis 16, ab V 6)
6 Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh.
7 Aber der Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur.
Das war keine kopflose Flucht… kein Selbstmordgedanke… sie flieht zu einer Quelle… wo es Wasser gibt und damit vielleicht die Hoffnung, dass sie mit anderen
Nomaden weiterziehen kann… wer weiß.
Da steht plötzlich einer… und bitte: keine weißen Kleider und Glitzerflügel…vorstellen.
Da steht plötzlich einer, der sich einmischt, der nicht vorbei geht… einer, dem man anmerkt… nicht von meiner Welt… nicht von dieser Welt… einer mit einer Botschaft, der sie nicht ausweichen kann…
Einer, der sie in die Präsenz Gottes zieht.
Vollmacht nennt man das.
8 Der (!) sprach zu ihr:
Hagar, Sarais Magd…
Eine Anrede, die gleich etwas klar stellt: Er entlässt sie nicht aus ihrem Leben – auch nicht aus diesem schwierigen Beziehungsgeflecht... „Fremde“, sagt er, „Sarais Magd“.
Er belässt sie vom ersten Wort an ihrer Identität und ihrem Beziehungsgeflecht.
Wo kommst du her und wo willst du hin?
Wo sie herkommt, das kann sie sagen…obwohl diese Frage ja so viel tiefer geht.
„Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen“.
Biblischer Erzählstil – in 7 Worten eine ganze Saga!
Aber: Endlich fragt sie mal einer. Wo kommst du her?
Wie ist deine Geschichte – deine Biografie?
Die ist doch zusammengebrochen. Sie wird ihr Elend erzählt haben. Mit vielen Tränen - vermute ich – oder vielleicht auch wirklich so… wortkarg… denn - wen interessiert’s schon? Wie sehr hätte sie sich einmal (!) von Sarai diese Frage gewünscht…
„Abgehauen bin ich. Bevor sie zuhauen konnte, meine Herrin, bin ich abgehauen“.
Wir kennen das Wort ‚Schicksalsschläge‘.
Wo kommst du her… das geht noch zu beantworten, kurz oder lang.
Aber: Hagar, …und wo willst du hin?
Wo wollen wir hin… in 2023? Wo wollen wir hin mit unserem Leben?
Wie hört sich diese Frage an für die jungen Menschen, die sich „die letzte Generation“ nennen und sich auch so fühlen?
Wo willst du hin…. Hagar?
Das verschlägt ihr die Sprache, vermute ich. Wie beschreibt man: keine Chance,
keine Zukunft, keine Hoffnung, keine Idee von einem Ziel. Und: schwanger.
Und ich finde: Jetzt kommt der Hammer.
Dieser Engel hat kein Halleluja mitgebracht.Kein: Fürchte dich nicht… Keine große Freude…
Keine 3 Nüsse, die aus der Sklavin eine Prinzessin macht.
Nichts, was wir so gerne in das Drehbuch einer Dramaserie hineinschreiben würden.
9 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre wieder um - zu deiner Herrin - und demütige dich unter ihre Hand. Hagar, Sarais Magd… das ist dein Weg. Du bleibst die Fremde. Nimm dein Leben an. Du kriegst kein anderes.
Da ist so viel Weihnachten – so viel Christus drin… zugiger Stall und Krippe und Flucht und auch Kreuz…
Und nun gibt es eine Verheißung für das Kind:
10 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. 11 Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört. Gott ist mit allen Sinnen dabei. (Ismael = Gott hat gehört/ erhört.)
12 Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen.
Hören Sie das?
Das ist die Verheißung von Konflikten über Generationen.
Ismael und Isaak – Araber und Juden bis heute… der rote Faden der Brüche, der Abbruchkanten…
Und trotzdem passiert in Hagar eine Wendung… ein Wandel!
13 Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete:
Du bist ein Gott, der mich sieht.
Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.
14 Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht.
Du bist ein Gott, der mich sieht.
Ich würde diese Predigt jetzt so gerne mit einem leichter zu fassenden Trost beenden.
Oder noch besser: Mit der Aussage, dass da doch eine große Beruhigung und Freude in dieser Erkenntnis steckt. Für Hagar damals. Für uns heute.
Aber ist das so?
War Hagar getröstet in diesem ‚Ich-sehe-dich Gottes‘?
Es muss aber eine große Bedeutung für sie gehabt haben, denn von nun an nennt man diese Quelle, an der sie sich niedergelassen hat:
Brunnen des Lebendigen, der mich sieht.
Nicht ihr äußeres Schicksal wurde gewendet, sondern sie selbst erfährt unter dem „Gesehen-werden“ Gottes eine Wandlung, weil sie Ansehen bekommt.
Quellen stehen ja immer für frische Anfänge. Quellen lassen Wanderer anders weitergehen. Klares Wasser für klare Erkenntnisse?
Ganz sicher war ihr klar: Vor diesem Gott bin ich keine Fremde.
Dem bin ich mit meiner ganzen Geschichte und meiner Zukunft bekannt.
Ich bin vor seinen Augen!
Was das bedeutet, wissen nur die, die einmal so einen Moment hatten; sich vor Gottes Augen zu wissen… in seine Präsenz hineingezogen wurden.
Wer das nicht erlebt hat, kann den Moment – diesen Kairos – nicht ermessen… dem muss das hohl vorkommen.
Für Hagar bedeutet es ein neues Leben im Alten.
Nach dieser Begegnung mit Gottes Ansehen gehst du anders weiter…
Auch: anders zurück…. bleibst anders drunter… (Bonhoeffer)
Ich sehe dich an.
Das muss manchmal reichen, um seinen Weg weiterzugehen; anders weiterzugehen,
um drunter zu bleiben…
Du bist ein Gott, der mich sieht… eine Losung, die uns aufrichten kann, wo wir drunter bleiben müssen im Jahr 2023.
Wo wir auch herkommen…und wo es uns auch hinführt:
Wir haben einen Gott, der uns nicht aus den Augen lässt.
Und so nehmen wir es unter die Füße, das neue Jahr …Tag für Tag und Schritt für Schritt für Schritt… in seinem Frieden, der höher ist als alle Vernunft.
Amen
Lied: Schritte wagen im Vertrauen auf einen guten Weg