Gottesdienst am 15. November 2020 (Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres - Volkstrauertag)

Erstellt am 15.11.2020

Wochenspruch (2. Korinther 5,10a):
Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.

Eingangspsalm (Psalm 50, 2-4.6):

Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes.
Unser Gott kommt und schweiget nicht.
Fressendes Feuer geht vor ihm her
und um ihn her ein gewaltiges Wetter.
Er ruft Himmel und Erde zu,
dass er sein Volk richten wolle.
Und die Himmel werden seine Gerechtigkeit verkünden;
denn Gott selbst ist Richter.

Gebet:
Ewiger, liebender Gott,
streng ist deine Güte, gnädig dein Gericht.
Hilf uns, dein Urteil anzunehmen
und aus deiner Güte zu leben.
Durch Jesus Christus, unsern Herrn.
Amen. 

Lied: Freunde, dass der Mandelzweig
1. Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
2. Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
3. Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
4. Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt. 

Text: Schalom Ben-Chorin
Musik: Fritz Baltruweit

„Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat, und der im Dunkeln gegen die Stangen seines engen Käfigs anfliegt.“                             (aus dem Tagebuch der Anne Frank)

 

Marc Chagall: Anne Frank (1958)

  „Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat, und der im Dunkeln gegen die Stangen seines engen Käfigs anfliegt“: so vertraut es ein junges Mädchen namens Anne Frank im Herbst des Jahres 1943 ihrem Tagebuch an. Schon mehr als 15 Monate bildeten da die engen Räumlichkeiten in einem Amsterdamer Hinterhaus den einzigen Lebensraum für dieses Mädchen. Eine Art  Geheimtür verwandelte das Hinterhaus in ein Versteck - für Anne, für ihre Familie und für vier weitere Menschen jüdischen Glaubens. Ein Versteck vor drohender Deportation, zugleich aber auch zu einem (selbstgewählten) Gefängnis, einem „Käfig“.

   Geboren wurde Anne Frank 1929 in Frankfurt am Main. Schon 1933 waren ihre Eltern mit Anne und der drei Jahre älteren Margot nach Amsterdam emigriert, denn die Niederlande waren für ihr liberales politisches Klima bekannt. Im deutschen Reich hingegen machen verschiedene Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung dieser das Leben immer bitterer: 1933 werden Geschäfte von Juden boykottiert, und das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs-beamtentums“ zielt auf die Ausschaltung jüdischer Menschen aus dem öffentlichen Leben. 1935 werden die sog. Nürnberger Gesetze erlassen, die den Juden alle Staatsbürgerrechte aberkennen; im selben Jahr werden Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden verboten. 1938 müssen jüdische Menschen ihren Pass mit einem „J“ kennzeichnen lassen. Und mit der sog. Reichskristallnacht in der Nacht vom 9. auf den 10. November des Jahres beginnt die systematische Vertreibung und Verfolgung der Juden: Fensterscheiben werden eingeworfen; Wohnungen, Büros und Geschäfte werden verwüstet; Menschen geschlagen, eingeschüchtert, verhaftet; Synagogen in Brand gesteckt.
Familie Frank wähnt sich da, was ihr eigenes Leben anbelangt, in ihrem Exil in Sicherheit. Aber als im Mai 1940 die deutsche Wehr-macht die Niederlande überfällt und besetzt, gelten auch dort bald die gleichen Verordnungen wie in Deutschland. Die Rechte der Juden werden stetig eingeschränkt. Und als im Juli 1942 Annes Schwester Margot einen Einberufungsbescheid der SS für einen „Arbeits-einsatz“ in Deutschland erhält, gibt die Familie Frank ihre Wohnung auf und taucht in ihrem Versteck im Hinterhaus unter.
25 Monate harren sie dort aus. 25 Monate eingesperrt in ein Versteck, das man nur unter Gefahr für das eigene Leben verlassen könnte, und sei es nur für fünf Minuten, um einmal frische Luft zu schnappen, die Sonne auf der Haut zu spüren, den Wind in den Haaren zu spüren. 25 Monate eingesperrt in ein “Paradies“, in das die Nachrichten vom Abtransport der jüdischen Freunde und Bekannten dringen. Und in dem die Angst davor, entdeckt zu werden, ständig gegenwärtig ist.
„Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat, und der im Dunkeln gegen die Stangen seines engen Käfigs anfliegt“: Hat Marc Chagall diesen Tagebucheintrag gekannt, als er  sein Bild gezeichnet hat? Der „enge Käfig“, die Häuserzeile an der Prinsengracht in Amsterdam, ist dort zu sehen. Im Dunkeln kann man  aus ihrer Heimat vertriebene Juden erkennen; brennende Synagogen ebenso wie gequälte Menschen auf dem Weg ins Vernichtungslager. Letztlich beherrscht aber nicht diese leidvolle Wirklichkeit das Bild. Wie in einer Vision, einem Traum, nimmt ein Vogel (und zwar ohne beschnittene Flügel!) fast die Hälfte des Bildes ein. Eine Taube, Symbol für Frieden und Versöhnung. Seit Noahs Zeiten auch für die Möglichkeit eines Neu-Anfangs.
Diese Taube bricht von oben, vom Himmel her, in die Welt ein, wie wir sie kennen; in die Welt, wie sie war und wie sie bis heute ist. Ihr leuchtendes Weiß überstrahlt die Dunkelheit des Leidens. Es macht es nicht ungeschehen, das kann es nicht. Aber es setzt ihm etwas entgegen: Die Hoffnung auf eine andere Welt. Mit in die schwebende Friedenstaube hat Chagall Anne Frank hineingenommen. Ihre Arme und Hände scheinen mit den Flügeln der Taube zu verschmelzen. Ein aufgeschlagenes Buch, das Tagebuch der Anne Frank, ist nahezu in der Mitte des Bildes zu sehen. Als Botschaft vom Frieden in einer friedlosen Welt. Als Zeugnis der Menschlichkeit inmitten unglaublicher Unmenschlichkeit.
Am 4. August 1944 wird das Versteck im Hinterhaus entdeckt; die Untergetauchten werden nach Ausschwitz gebracht. Ende '44 werden Anne Frank und ihre Schwester Margot in das Lager Bergen-Belsen verlegt und sterben dort im März 1945. Wenige Tage, bevor sie in ihrem Versteck aufgespürt wird, schreibt Anne Frank ins Tagebuch: „ … ich höre den anrollenden Donner, der auch uns töten wird … und doch, wenn ich nach dem Himmel sehe, denke ich, dass alles sich wieder zum Guten wenden wird“.